Start am Kirchplatz in Wülperode

Start am Kirchplatz in Wülperode

Nach der Tour zwischen Oker und Vienenburg sollte die sechste und letzte Wanderung des einwöchigen Urlaubs gleich an diese anschließen. Vor neun Jahren hatten wir die heutige Tour in zwei etwas längeren Wanderungen schon einmal absolviert. Jetzt wurde sie von mir auf eine einzige, die einige “Durststrecken” wegließ, eingedampft. Da wir schon so eine Ahnung hatten, dass die Wege in den Naturschutzgebieten Okertal (Sachsen-Anhalt) und “Oker- und Eckertal in den Landkreisen Goslar und Wolfenbüttel” (Niedersachsen) nicht mehr so wie noch vor neun Jahren aussehen, starteten wir vom Parkplatz am Grenzdenkmal, um herauszufinden, ob noch was geht. Hier wanderten wir damals auf einem schmalen Pfad kilometerweit fast direkt an der Oker entlang. Dieser Pfad war wohl damals schon nur “halboffiziell”, heute ist er in diesem Bereich nahezu verschwunden. Es waren zwar auch dieses Mal einige Leute hier unterwegs, auch noch mit nicht angeleinten Hunden, aber in einem solchen Fall sollte man schon die Vernunft an erste Stelle setzen und dem Naturschutz Vorrang geben. Vernunft und Verantwortung sind ja momentan angeblich auch wieder hoch im Kurs. Da wir wegen der Vorahnung eine Alternative parat hatten, fuhren wir vom Grenzdenkmal nach Wülperode, um dort zu parken und statt der Oker den Eckergraben zu begehen. Vor dem (ehemaligen) Gut in Wülperode war dann glücklicherweise ein sehr schöner Rastplatz mit dem alten Backhaus des Ortes, der ruhig war und ausreichend Parkgelegenheiten bot. Da sollte dem zweiten Versuch des Tages doch nichts mehr im Wege stehen.

Wülperode, Göddeckenrode, Isingerode – drei kleine Siedlungen, die aber alle etwas zu bieten haben und deren Durchquerung keine Langeweile aufkommen lässt. Vom Parkplatz am beschaulichen Ortsrand geht es auch gleich direkt an den Eckergraben, der südlich von Wiedelah von der Ecker, die kurz darauf in die Oker mündet, “abgezapft” wird, um selbst dann in der Nähe der Kaiserpfalz Werla in die Oker zu münden. Der Eckergraben, über den nicht allzu viel herauszufinden war, wurde vor Jahrhunderten angelegt und diente im Laufe dieser Zeit verschiedenen Zwecken. Er machte die trockenen Wiesen des östlichen Steinfeldes urbar, um Landwirtschaft betreiben zu können und half der Entwicklung der drei eben genannten Siedlungen. Zudem versorgte er die primäre Verteidigungsanlage der Wasserburg Wiedelah mit dem nötigen Stoff und trieb zwischen Wiedelah und der Werla mehrere Wassermühlen an. Am Graben stehen vielerorts etliche Gehölze, die nicht nur das Radfahren, sondern auch das Wandern erlebnisreich gestalten. Die typischen Wasserbewohner, wie Pappeln, Weiden und Erlen, aber auch etliche alte Eichen säumen den Weg an vielen Stellen. Kein Vergleich mit der Oker, aber auch sehr weit entfernt von langweilig oder öde. Die erste Strecke bis kurz vor Göddeckenrode verläuft hier auch der Harzer Grenzweg, der seit 2006 von Tettenborn im südlichen Harzvorland bis zum Kleinen Fallstein verläuft, wo wir ihm auf einer unserer letztens nachgeholten Wanderungen begegnet sind. Eine Infotafel ziemlich am Anfang unseres Weges am Eckergraben gibt Auskunft darüber.

Blick zum Harz mit Brocken

Blick zum Harz mit Brocken

Rechts von uns verläuft der Eckergraben, von dem wir oft nichts zu sehen bekommen. Dafür haben wir dort einen grünen Streifen und auf der anderen Seite über die Felder immer wieder Aussichten in Richtung Harz mit dem aus diesem Blickwinkel recht beeindruckend aufragenden Brocken. Rastplätze und Bänke sind heute rar gesät und sich einfach ins Gras setzen ist zu mancher Zeit und mancherorts leider auch schwierig. Nicht nur darum ist der kleine Garten, den engagierte Bewohner am Rande von Göddeckenrode, das wir auf dem Hinweg nur streifen, angelegt haben, ein Muss. Eine Bank, ein Rastpavillon, ein großes Insektenhotel und eine angelegte Blumenwiese mit Bäumen laden hier zur Pause ein. Wenn ich mich nicht täusche, ist das auch die einzige Sitzgelegenheit auf der gesamten ersten Hälfte des Weges. Wir begegneten hier am Garten zwei Anwohnern, die wohl zum Team gehören, das die Grünfläche angelegt hat und pflegt. Sie freuten sich, dass sich hier mal jemand hinsetzte und berichteten, dass viele, die hier vorbeikommen, glauben, es handele sich um ein Privatgrundstück. Dem ist nicht so und der Platz will besucht werden, zumal er an einer der Naturerlebnisrouten am Grünen Band liegt, über die bedauerlicherweise auch wieder nicht viel in Erfahrung zu bringen war. Bis hierhin gibt es schon einmal überhaupt nichts zu meckern und so geht es, wenn ich das vorwegnehmen darf, auch weiter.

Hinter Göddeckenrode müssen wir, dem Umstand geschuldet, dass wir während einer Wanderung ungern zweimal den gleichen Weg gehen wollen, einen Abstecher zur Landstraße 511 machen. Im Hintergrund sind als Landmarke die Gebäude der Zuckerfabrik Schladen zu erkennen, die den Strukturwandel der “süßen Industrie” bislang gut überstanden zu haben scheint. Wem die heutige Runde sowieso zu kurz erscheint, der kann zum Beispiel an der Landstraße einen Abstecher zum Steinfelder Zoll machen, an dem auch eines der braunen Schilder steht, die vielerorts Auskunft erteilen, bis wann Deutschland hier geteilt war. Sinnvoller erscheint dann allerdings doch eher eine verlängernde Runde um einen der oder beide alten Kiesteiche, die links von uns liegen, wenn wir die kurze Strecke an der Landstraße nach rechts zurücklegen. Wir haben uns das dieses Mal gespart, für das nächste Mal aufgehoben und nur einen kurzen Blick geworfen. Vom Verlauf der ehemaligen innerdeutschen Grenze, heutzutage die Grenze zwischen den Bundesländern Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, hätten wir gar nichts mitbekommen, wenn ich nicht zufällig gerade aufs Smartie gesehen hätte und die beiden Felder links und rechts der ehemaligen Grenze nicht so unterschiedliche Farbtöne aufgewiesen hätten. Auf dem Foto in diesem Text erkennt man deutlich den Farbunterschied zwischen der Gerste und dem Weizen oder Roggen. Ein paar Meter noch, dann geht es entweder links zu einer Umrundung des zweiten Sees oder nach rechts zurück zum Eckergraben. Der präsentiert sich hier noch einmal von seiner besten Seite und macht die letzten paar hundert Meter ins kleine Isingerode, das für heute auch schon den Wendepunkt darstellt, durchaus erlebenswert.

Drei Dörfer, zwei Bundesländer, ein Land, keine Grenzen...

Drei Dörfer, zwei Bundesländer, ein Land, keine Grenzen...

Wülperode wurde 995 erstmals urkundlich erwähnt und kann damit auf einer über 1000-jährige Geschichte zurückblicken. Pünktlich zum Jubiläum wurde das Dorf 1995 zum “Schönsten Dorf Sachsen-Anhalts” gekürt. Im kleinen Ortskern findet man neben dem Gut mit der Gutskirche einige sehenswerte Bauernhäuser aus der Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert und ein Denkmal für den Ritter Hanns von Hackelberg, dessen Legende in engem Zusammenhang mit der von der Wilden Jagd stehen soll.

Göddeckenrode wurde 1311 erstmals urkundlich erwähnt, ist aber, wie viele andere Ortschaften, mit höchster Wahrscheinlichkeit sehr viel älter. Das westlichste Dorf Sachsen-Anhalts war in der DDR Grenzsperrgebiet und konnte nur mit Passierschein erreicht werden. Sehenswert sind unter anderem die Kirche aus dem 18. Jahrhundert und etliche Fachwerkhäuser aus dem 16. Jahrhundert.

Isingerode wurde 1188 erstmals urkundlich erwähnt, ist aber wie die beiden anderen Dörfer wesentlich älter. Eine unbefestigte Siedlung konnte für das erste Jahrtausend vor Christus nachgewiesen werden. Im Ort gibt es einige Fachwerkhäuser, nahe dem Ort befinden sich die Überreste der Isiburg, die lange Zeit als Schwedenschanze Grund für Spekulationen gab. Es handelt sich um einen Ringwall der späten Bronzezeit, der um 1200 vor Christus entstand und während seiner Nutzungszeit nachgewiesenermaßen mehrfach durch Brand zerstört wurde.

Wir betreten Isingerode parallel zum Eckergraben und gelangen zum Malerwinkel. Hier stehen zwei Türme direkt nebeneinander. Zum einen der Schlauchturm der Freiwilligen Feuerwehr, zum anderen ein ehemaliger Trafoturm, der zum Artenschutzhaus umgebaut wurde. Neben Brutplätzen für Insekten finden sich am und im Haus zahlreiche Nist- beziehungsweise Überwinterungsplätze, unter anderem für Schwalben, Mauersegler, Turmfalken und Fledermäuse. Am Malerwinkel verlassen wir auch den Eckergraben, der uns so vortrefflich die erste Hälfte der heutigen Tour begleitet hat. Durch die hübsche Isingeröder Straße gelangen wir zum Itschenkrug, der einzigen am Weg gelegenen Einkehrmöglichkeit des Tages. Itschenkrug kommt übrigens, ebenso wie der ehemalige Poggenkrug in Hildesheim, von Fröschen beziehungsweise Kröten. Am Friedhof kommen wir zu dem “Höhenzug”, der sich zwischen Isingerode und Wiedelah erstreckt. Zwischen Schladen und Vienenburg befinden sich auf der anderen Seite der Oker die westlichen Okerterassen, die teilweise auch so benannt sind. Da diese Höhen ähnlich sind, nenne ich sie der Einfachheit halber die östlichen Okerterassen. Sie werden den zweiten Teil der Wanderung dominieren. Die Wege, die mal oben auf der Höhe verlaufen, mal am Hang und mal am Fuß der Höhen, gehören zu den schönsten im nördlichen Harzvorland.

Kirchplatz in Göddeckenrode

Kirchplatz in Göddeckenrode

Am Friedhof geht es hinauf, dann auf einen Weg, der zwischen den Feldern und den bewaldeten Hängen der Okerterassen entlangführt. Mal ist man ein bisschen im “Wald”, mal direkt am Rand. Mal sieht man nur Grün, mal kann man durch gerodete Flächen einen Blick ins westlich gelegene Steinfeld werfen. Von der Isiburg, auch als Schwedenschanze bekannt, war bei unserem diesmaligen Besuch nichts zu erkennen. 2012 fanden hier gerade wieder Ausgrabungsarbeiten statt, im Jahr 2017 sind diese wohl abgeschlossen worden und das Bodendenkmal wurde wieder verfüllt. Mag sein, dass Schweden hier eine Schanze ausgehoben haben, aber bereits gegen 1200 vor Christus entstand die erste Wallanlage. Über die Jahrhunderte wurde die Anlage immer wieder durch Brand zerstört und hatte wechselnde Bewohner und Nutzer. Für uns geht es noch ein Stück weiter auf dem freundlichen Weg auf der Höhe der östlichen Okerterrasse, bis wir dann den Abstieg zum Fuß derselbigen wagen. Da unten ist es dann mindestens ebenso schön wie oben. Als Landmarken dienen noch eine ganze Zeit die Zuckerfabrik in Schladen hinter uns und der Brocken vor uns. Linkerhand sind die Hänge der Terrassen, die von zahlreichen Eichen besiedelt werden. Die Hänge an der Oker sind weitestgehend nicht breiter als fünfzig bis hundert Meter, dafür sind sie wirklich erstaunlich schön. Auch die immer wieder den Charakter wechselnden Wege wissen zu begeistern. Recht unbemerkt überqueren wir zum zweiten Mal die ehemalige innerdeutsche Grenze und gelangen auf einen Grenz-Kolonnenweg, der uns wieder nahe an den Eckergraben führt. Der folgende, kurze Weg durch die Wiesen nach Göddeckenrode lässt in landschaftlicher Hinsicht keine Wünsche offen.

Der 17. Juni - War da was?

Aus aktuellem Anlass etwas abseits des Wanderns, wobei es nicht ganz unpassend ist, da wir ja heute die ehemalige innerdeutsche Grenze zweimal überqueren. Zufällig war ja gerade der 17. Juni, der dieses Jahr als Gedenktag nicht begangen wurde wegen – dem Corona-Theater? Na ja, um Ausreden waren Politiker und Regierungen ja nie verlegen. Im Juni 1953 kam es aufgrund der fortwährenden Ignoranz der Führung der DDR gegenüber den Belangen der Arbeiterklasse zu einer Welle von Streiks, Protesten und Demonstrationen, die am 17. Juni 1953 in einen Aufstand mündeten, der von der Sowjetarmee gewaltsam niedergeschlagen wurde. Insgesamt kamen auf beiden Seiten 39 Menschen ums Leben. In der Bundesrepublik Deutschland wurde dieser Tag seit 1954 als Tag der Deutschen Einheit gefeiert, bis er 1990 vom 3. Oktober abgelöst wurde. Für mich ist es erstaunlich, wie wenige Menschen heutzutage noch vom 17. Juni wissen. Noch erstaunlicher beziehungsweise ärgerlicher oder eben bezeichnend für unser Land ist, dass nicht der 9. November, der Tag des realen Mauerfalls, als nationaler Gedenktag gewählt wurde, sondern der Tag, an dem die Schlipsträger aus West und Ost die Knebelverträge unterschrieben, mit denen die DDR abgefrühstückt wurde. Kein anderer Tag des Jahres hätte “uns” besser zu Gesicht gestanden als der “Schicksalstag” der Deutschen. An keinem anderen Tag hätten wir uns Jahr für Jahr besser vor Augen führen können, wer “wir” waren, wer “wir” sind und wer “wir” immer wieder werden können. 2020 hätten wir einen 9. November dringend gebrauchen können und so wie es aussieht, auch 2021, um uns vor Augen halten zu können, wie zerbrechlich Frieden, Freiheit und Demokratie sein können.

Das haben wir uns verdient

Das haben wir uns verdient

In Göddeckenrode angekommen, sind wir auch schon am schönen Kirchplatz, der einige Pausenplätzchen und eine sehr schöne Dorfkirche zu bieten hat. Göddeckenrode ist sowieso ein sehr hübsches und beschauliches Dorf mit einigen interessanten, alten und neuen Gebäuden. So geht es recht beschwingt durch die bei unserem Besuch nahezu menschenleeren Straßen, bis wir den Ort durch die Wülperoder Straße verlassen. Der folgende Weg, der vielleicht “schönste” des Tages, ist witzigerweise auf vielen Karten nicht einmal verzeichnet, aber definitiv vorhanden. Am Anfang führt ein paralleler Hangweg neben dem am Fuß der Terrasse befindlichen Waldrandweg. Ein wirklich wunderschöner Wald mit sehr hohem Anteil an Eichen, die sich hier noch recht wacker schlagen. An einigen Stellen des Weges wurde gerodet und es wurden Laubbäume, unter anderem Eichen, nachgepflanzt. Dieser kurze Weg spottet jeder Beschreibung und bietet zum Ende hin noch einmal herrliche Eindrücke. Manch einer wird dabei nichts empfinden, aber wir lieben diese kleinen Flecken Erde, die man entdecken kann, wenn man sich mal abseits der großen Wanderströme bewegt. Ein paar hundert Meter genießen wir also diesen schönen Abschnitt an der Okerterasse, dann bewegt sich unser Weg fort von den Höhen, an mit Obstbäumen bestandenen Weiden nach Wülperode. Durch den hübschen Ort erreichen wir unseren Ausgangspunkt am ehemaligen Gut Wülperode mit der sehenswerten Gutskapelle. Davor der schöne Platz mit dem alten Backhaus, Bänken und einem einladenden Rast-Pavillon.

Am Ende eines Tages...

Wie gut, dass man im Laufe der Jahre, neun davon sind ins Land gezogen, vieles vergisst. Zwar konnten wir nicht an der Oker laufen, aber der Eckergraben war auch sehr wanderbar. Die Schönheit der Wege an der östlichen Okerterrasse hatten wir nicht mehr so sehr in Erinnerung und waren wieder einmal begeistert. Dazu beigetragen hat aber auch das schöne Wetter am letzten Urlaubstag, nachdem wir den Rest der Woche einige Male nasse Füße bekommen hatten. Diesen Teil des nördlichen Harzvorlandes haben wir jetzt schon ganz gut wieder neu kennengelernt. Zwischen Wülperode und der schönen Fachwerkstadt Osterwieck gibt es auch noch einige interessante Flecken, die sich aber nur schwer verbinden lassen, weil sich dazwischen nur Felder mit weitestgehend schnurgeraden Wegen befinden. So ist es nun einmal. Während andere um die Welt reisen, schaffen wir es nicht einmal, innerhalb einer Lebensspanne die eigene Heimat vollständig zu erwandern. Wo sie anfängt und endet, unsere persönliche Heimat? Vielleicht liegt es auch daran, dass wir beide halbe Flüchtlingskinder sind, dass wir die Heimat eigentlich immer bei uns haben und sie sich immer da befindet, wo wir uns gerade wohlfühlen und wo unsere Herzen vor Wanderfreude höher schlagen.

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