Eigentlich wollten wir an diesem Tag direkt zurück nach Hause aus unserem Kurzurlaub am Kyffhäuser. Dann riss die Sonne auf und es hätte uns das Herz zerrissen, wären wir nicht noch einmal gelaufen. Zufällig kamen wir an Sangerhausen vorbei, wo ich kurz zuvor eine kleine Runde an der weithin sichtbaren und ebenso bekannten Abraumhalde Hohe Linde geplant hatte. Also besorgten wir uns kurzerhand etwas zu essen und zu trinken in einem Markt in Sangerhausen, fuhren zum Parkplatz Walkmühle und liefen los. Als es dann wenige Minuten später wieder zuzog, war es bereits zu spät, weil Beine, Geist und Herz sich weigerten umzudrehen. Die Welt ist im Wandel, sagte einst Galadriel am Anfang des ersten Teils der Filmtrilogie „Der Herr der Ringe“. An Orten wie Sangerhausen kann man das spüren. Einst eine kleine, aber bestimmt feine Ackerbürgerstadt, wuchs sie im Lauf der Zeit um das Vielfache an. Seit dem Mittelalter wurde auch Bergbau betrieben, unter anderem wurde Kupferschiefer abgebaut. Nachdem der Bergbau bereits im 19. Jahrhundert an Bedeutung verloren hatte, blühte er nach dem Zweiten Weltkrieg, als Ressourcen in der DDR knapp waren, wieder auf. Von 1946 (16.220) bis 1980 (33.822) verdoppelte sich die Einwohnerzahl. Nach der sogenannten Wende, die eigentlich eine feindliche Übernahme war, brach der unrentable Bergbau zusammen und vielen Menschen wurde die Lebensgrundlage entzogen. Wäre nicht im Jahr 2008 die Gemeinde Wippra eingemeindet worden, hätte Sangerhausen heute wohl wieder die Einwohnerzahl von 1946.

Das Bethaus der Bergleute

Das Bethaus der Bergleute

Solche Extreme können alte Gefüge und gewachsene Strukturen auf Dauer zerreißen. Sangerhausen hat einiges zu bieten, wie das Europa-Rosarium, einen mittelalterlichen Stadtkern und eine schöne Umgebung am Rand des Biosphärenreservats Karstlandschaft Südharz, hat aber auf der anderen Seite mit vielen Altlasten und dem heutigen, sehr launenhaften Zeitgeist zu kämpfen. Natürlich müssen auch viele andere Städte kämpfen und ich erwähne das in diesem Zusammenhang besonders, weil wir (nicht nur) die ersten Kilometer dieser Tour durch Gebiete kommen, die deutlich vom Wandel der Zeit zeugen. Die ersten Kilometer sind kein Zuckerschlecken, manch einer würde es nicht einmal als Wanderung ansehen – aber das ganze Leben ist eine Wanderung und eines kann ich versprechen – es ist wie immer spannend. Mit jedem zurückgelegten Meter entfernen wir uns von der „Zivilisation“ und es wird netter, die Wege weicher und schmaler, die Landschaft schöner. Vom Parkplatz Walkmühle, an dem es einige Informationen zur Gegend gibt. Wir bewegen uns heute auf den weitestgehend auf den beiden Wanderwegen „Hohe Linde“ und „Wildrosenpfad“, wobei wir beide zu einem etwas längeren, gemeinsamen Weg verbinden und einige „Durststrecken“ vermeiden. Wir verlassen den Parkplatz – der Straßenname verrät, dass sich hier einst wohl eine Kupferhütte befand – um endlich wandern zu gehen. Direkt an der Straße steht ein kleines, trauriges Häuschen mit steinernem Fundament und hölzernem Aufbau, der an einen Glockenturm erinnert. Und so ist es auch. Es handelt sich um das Bethaus der einst hier in der Gegend tätigen Bergleute. Eine Schande und wohl dem immer interesseloser werdenden Zeitgeist geschuldet, dass ein solch bemerkenswertes Gebäude verfallen muss.

Wir gehen die ersten paar Meter auf der Straße „Kupferhütte“, dann wenden wir uns lockerer Bebauung am Stadtrand zu, die im Rahmen des Bergbaus und später entstanden sein dürfte. Wir durchqueren also auf gar nicht so unfreundlichen Wegen die Siedlungen unterhalb des Christ- und des Brühlberges. Je nach Jahreszeit und individuellen Interessen kann man etwas entdecken – oder eben auch nicht. Im früher bestimmt einmal idyllischen Brühltal wurde während unseres Besuchs gerade das Orientalische Zackenschötchen bekämpft. Die aus Osteuropa eingewanderte beziehungsweise eingeschleppte Pflanze ist bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland heimisch und wurde mancherorts sogar als eiweißreiche Futterpflanze angebaut, kann sich aber bei für sie günstigen Gegebenheiten invasiv und sprunghaft vermehren. Da wünschen wir den Sangerhäusern viel Erfolg bei der Bekämpfung. Für den Ortsfremden ist es aufgrund der Tatsache, dass die meisten Zeugnisse des Bergbaus verschwunden sind, nahezu unmöglich zu sagen, wo sich diese Anlagen befanden. Die Halde an der Schachtstraße ist allerdings schwer zu übersehen. Wir fanden hier übrigens witzigerweise im Gebüsch einige Exemplare des Kleinen Zweiblatts, einer heimischen Orchidee.

Die Spitzkegelhalde Hohe Linde

Sangerhausen liegt, ebenso wie das bekannte benachbarte Bergbaugebiet des Mansfelder Landes, am Südharzer Zechsteingürtel, in dem unter anderem Kupferschiefer zu finden ist, ein Tonstein, der zu einem gewissen Anteil Nicht-Eisenerze wie Silber und Kupfer enthält. Kupfer wurde wohl bereits in der Bronzezeit abgebaut. Seit dem Mittelalter wurde der Kupferschiefer im größeren Stil erst oberflächennah, später im Stollenbau abgebaut und die daraus gewonnenen Rohstoffe in Hüttenwerken weiterverarbeitet. Zur Hochzeit gab es im Sangerhäuser Revier 270 Schachtanlagen. Im 19. Jahrhundert verlor der Bergbau dann an Bedeutung. 1944 wurde der Bergbau wegen Rohstoffknappheit wieder aufgenommen und in der ebenfalls „rohstoffarmen“ DDR wurde dieser weiter betrieben bis zur Stilllegung am 10. August 1990. In diesem Zeitraum hatte sich als einziges sichtbares Überbleibsel des industriellen Abbaus die Abraumhalde der Hohen Linde gebildet. Sie besteht aus 20 Millionen Tonnen Gestein, aufgetürmt zu einem 150 Meter hohen Berg. Damit liegt ihr „Gipfel“ auf 400 Meter Höhe und bietet zu den Terminen, an denen man die Halde offiziell besteigen darf, einen wohl weiten und spektakulären Ausblick.

An der nächsten Ecke „schnüffelten“ wir ein wenig herum und wurden wieder einmal dahingehend belehrt, dass es super spannend sein kann, sich mit Geschichte, die immer auch aus Geschichten besteht, zu beschäftigen. Die Ecke selbst nennt sich auf der Karte Bratwurst, der abzweigende Weg Schifffahrt. Dieser führt unter anderem vorbei an der Wüstung Brechtewende zur Engelsburg, einem von Simon Engel 1670 errichteten, heute wohl unbewohnten Gutshof. Am Hof vorbei fließt der Engelsburggraben, der nach dem Durchfließen eines Teiches plötzlich Weinlagergraben heißt. Weinlager ist dann ebenfalls die Bezeichnung für ein Gewerbegebiet und ein Flurstück. Ich habe nicht weiter recherchiert, aber wer das tut, wird bestimmt auf weitere interessante Einzelheiten zu den verschiedenen Orten treffen. Wir folgten dem grünen Balken hinauf zum Brühlberg, weil wir eine Pause an der Schutzhütte machen wollten. Alle anderen dürfen gerne der Ausschilderung „Hohe Linde“ folgen. An der etwas maroden Schutzhütte stand ein ebenfalls vernachlässigtes Denkmal, von dem ich leider nur ein Foto machte und nichts weiter darüber herausbekam. Immerhin kam die Sonne sogar noch einmal heraus und so ging es heiter beschwingt hinauf zum Schlösschenkopf. Hier erwartet uns die Moltkewarte und zur rechten Zeit ein geöffneter Imbiss oder Kiosk. Die dem Generalfeldmarschall von Moltke gewidmete, 1903 aus Rogenstein errichtete Warte bietet, wenn geöffnet, aus 26 Meter Höhe einen weiten Ausblick bis zum Thüringer Wald.

Rastplatz mit Aussicht

Rastplatz mit Aussicht

Schön hier oben! Und ebenso geht es weiter, wenn wir uns jetzt von hinten „durch die kalte Küche“ der Abraumhalde der Hohen Linde nähern. Zuerst geht es noch ein paar hundert Meter durch den Wald. An der Hirtengasse hatten wir eine tolle Begegnung mit einer Schafherde und einem gechillten Herdenschutzhund, der uns wohl als freundlich gesonnen einstufte. Anscheinend haben Hunde ein besseres Gespür für Menschen als zum Beispiel die degenerierten Jungs und Mädels von der sogenannten Antifa, wenn mir der unnötige Seitenhieb erlaubt sei. Ebenso gibt es hier auch noch einige Informationen zu den auf der Spitzkegelhalde vorkommenden Pflanzen und den Wanderwegen. Die imposant aufragende Halde gerät die nächsten Kilometer immer wieder unweigerlich ins Blickfeld und will ausgiebig bestaunt werden. An der nächsten Schutzhütte, die bei unserem Besuch von den üblichen Verdächtigen als Müllkippe missbraucht wurde, gibt es noch einmal Informationen zum Wandern und zum Biosphärenreservat Karstlandschaft Südharz. Hier verlassen wir auch den Wanderweg „Hohe Linde“ und folgen dem „Wildrosenpfad“. Der führt uns zuerst auf einem netten Pfad zur Landstraße 231, dann wieder hinauf. Das ist auch noch einmal ein toller Abschnitt, wenngleich uns der kalte Wind eine lange Rast auf dem Berg mit Blick auf Sangerhausen verwehrte. Zahlreiche Wildrosen säumen den weiteren Weg und es geht ebenfalls durch schöne Hecken. Letztendlich erreichen wir das Tal der Gonna, die ehemalige Walkmühle und das ehemalige Naherholungsgelände mit Freilichtbühne, das immer noch darauf wartet, aus seinem Dornröschenschlaf geweckt zu werden.

P.S.: Jetzt habe ich im Nachhinein bei der Mitteldeutschen Zeitung doch noch etwas zu der Straße „Schiff(f)ahrt“ erfahren. In der dort gelegenen Siedlung Brechtewende, die im 14. Jahrhundert wüst fiel, gab es wohl im 16. Jahrhundert eine Schmelzhütte für die im Umfeld gewonnenen Erze. Im Dresdner Staatsarchiv gibt es dazu Unterlagen. In einer Auflistung der Hüttenkosten von 1528 heißt es: „Vor Schiffer fahrn – 250 Floren und 16 Silbergroschen“. Das bedeutet, das Schiff(er) für gewonnenen (Kupfer-)Schiefer steht, der (auf)gefahren wurde.

Am Ende eines Tages...

Kurze Wanderung – kurzer Beitrag. Sangerhausen lebt, liebt und leidet wie alle Orte und Menschen dieser Welt. Die kurze Runde zur Hohen Linde hat aber gezeigt, dass man auch in Gegenden etwas in Sachen Natur und Kultur erleben kann, wo man es zuerst nicht so vermutet hätte. Das war die einzige nennenswerte Wanderung nahe der Stadt, bemitleiden muss die Sangerhäuser deshalb niemand. Denn rund um die Stadt gibt es nicht nur den Harz, sondern auch zum Beispiel den Kyffhäuser, die Wind- und Hainleite oder die Hohe Schrecke. Ebenso sind das Biosphärenreservat und der Karstwanderweg nur eine Spuckweite entfernt. Also kann man sagen, dass Sangerhausen im Zentrum der Wanderparadiese liegt.

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