
Im Ilsetal
Aufgrund der recht vielen Frühlingswanderungen schiebe ich etwas verspätet eine Wanderung des bereits fast vergangenen, späten Herbstes 2019 und des frühen Frühlings 2020 nach. Sehnsuchtsziel Ilsenburg! Mitte der 1990er waren wir die ersten Male hier und waren begeistert von dem kleinen, touristisch noch weitgehend unerschlossenen Harzstädtchen. Heute ist von dem maroden Charme, den die Straßen und Gassen des Ortes versprühten und dem Hauch von Wildnis, der durch das Ilsetal wehte, nicht mehr so viel zu spüren wie damals. Aber auch wenn wir selbst einige Entwicklungen, wie die „Umwandlung“ des ortsnahen Ilsetals in einen „Erlebniswald“, nicht unbedingt gutheißen, ist auch für uns die Anziehungskraft dieses Fleckchens Erde ungebrochen. Es ist halt alles ein bisschen aufgeräumter und mehr dem Geist der Zeit angepasst. Wir haben die Tour in zwei Etappen absolviert, weil wir beim ersten Begehungsversuch zu spät loskamen und der Erlebniswert ein reines Ablaufen sinnlos erscheinen ließ. Am Ilsestein hatten wir durch die Wetterverhältnisse derart schöne Naturerlebnisse, dass es schwer wurde, sich von dort wieder loszureißen. Wem die 15 Kilometer dieser Tour zu viel sind, der kann sie also auch getrost in zwei Teile, zum Beispiel links und rechts des Ilsetals teilen. Optimaler Startpunkt wäre der Großparkplatz im Ilsetal, an dem man allerdings einen „kleinen“, unfreiwilligen Obolus entrichten muss. Wir starteten die erste Tour zum Ilsestein von dort, bei der zweiten auf der anderen Seite des Ilsetals hatten wir das Glück, einen der wenigen kostenfreien Parkplätze am Blochhauer zu ergattern. Von dort aus geht es erst einmal ins Ilsetal, das meistens recht gut besucht ist, weil viele Wanderer von hier in die grobe Richtung Brocken streben. Das ist wohl die schönste Strecke zum größten Norddeutschen, die wir auch schon mehrfach absolviert haben. Die meisten nutzen dabei zu unserem Glück die „Autobahn“, wodurch die schmalen Pfade an der Ilse nicht so überlaufen sind. Diese Pfade zeigen uns während der heutigen Tour, warum das Tal der Ilse das oft vergebene Prädikat „wildromantisch“ für hiesige Verhältnisse immer noch zu Recht trägt.
Los geht es also auf dem kleinen Parkplatz am Blochhauer, wo wir an diesem Tag die letzte Lücke erwischten. Der erste Abschnitt des Tages führt uns an der Ilse entlang zum Prinzess-Ilse-Quell. Durch die direkte Nähe der touristischen Einrichtungen entsteht kein wirkliches Gefühl der Abgeschiedenheit, aber trotzdem ist der Weg spannend und für den Interessierten gibt es jede Menge zu sehen und zu erkunden. Einige Infotafeln geben Aufschluss über verschiedene natürliche und kulturelle Aspekte. Wer hier nicht lebt und liebt, der lasse sich begraben, um es mal etwas abgewandelt mit den Worten des alten Dichterfürsten Goethe zu sagen, der bestimmt auch mal in Ilsenburg war. Am Quellhäuschen verlassen wir die Ilse vorerst und streben auf dem parallel zum Fluss verlaufenden Hangweg den Stumpfrücken hinauf. Das ist ein so richtig genialer Weg, der jeder Beschreibung spottet. Immer auf schmalem Pfad wandern wir leicht am Hang hinauf. Alles was das Herz begehrt, befindet sich am Wegesrand und es bietet sich der ein oder andere Ausblick in die nähere Umgebung. Der Bothoblick ist etwas zugewachsen, aber an der perfekten Pausenbank ein Stück weiter haben wir eine herrliche Aussicht über Ilsenburg ins nördliche Harzvorland. Hier ist der Weg mal kurz barrierefrei, bevor es wieder auf einen schmalen Pfad geht, der die Bezeichnung Eselsstieg zu Recht trägt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ilsetals leuchten im Spätherbst die Lärchen zwischen den zahllosen toten Fichten und man kann sich gar nicht sattsehen am sich bietenden Anblick. Auch dieser Pfad ist fantastisch. Ein paar Meter geht es durch einen jungen Lärchenwald, immer wieder bieten sich auf den freien Flächen des Wandelwaldes Ausblicke ins Ilsetal. Steile Hänge, gefallene Veteranen, immer wieder Felsen, da gibt es alle paar Schritte etwas zu entdecken und zu staunen. Einige größere Felsblöcke markieren dann das Erreichen des Ilsesteins.

Faszinierender Brockenblick
Solche Wetterverhältnisse, wie wir sie im Herbst am gewaltigsten Felsen im Ilsetal hatten, bekommt man als Tourist nicht alle Tage. Es war noch recht aufgelockert, in Richtung Brocken war es, wohl auch durch die Dämpfe der selten gewordenen Schnaufer, schon etwas diesig und dann zog, als wir den ausgedehnten Besuch beendeten, langsam der Nebel aus dem Tal hinauf. Ein Spektakel am ohnehin schon ausreichend spektakulären Ilsestein, der ausgiebig erkundet werden will. Die Aussichten zum Brockenmassiv und durch das Ilsetal in Richtung Ilsenburg sind fantastisch. Der wunderbar passende Imbiss am Platz der ehemaligen Gaststätte hatte nicht geöffnet, dafür waren wir aber auch allein hier oben. Aufziehender Nebel ließ die Temperaturen rapide sinken, sodass wir uns wieder auf die Socken machten und später dann sogar abkürzten. Rund um die Paternosterklippe ist der Wald arg gebeutelt in dieser Zeit und es wird wohl ein paar Jahre dauern, bis es hier wieder richtig ansehnlich wird. Unterhalb der Klippe gehen wir ins Bachtal der Loddenke, wo es wieder gemütlicher wird und dann auf einem netten Weg ins Ilsetal. Ein paar hundert Meter folgen wir dem Bremer Weg im Tal des Harzflüsschens, dann wenden wir uns am Zanthierplatz in das Rohntal am Schwarzen Graben. Hier brachen wir im Herbst ab, weil Nebel, arg gesunkene Temperaturen und der späte Start ein Weitergehen verhinderten und stiegen im sehr späten Winter beziehungsweise frühen Frühling wieder an dieser Stelle ein. Es geht durchaus spürbar hinauf in dem idyllischen Tal am munter sprudelnden Bach. Erste Kahlflächen zeigen sich in der Nähe und am Mittelberg werden es immer mehr. Lange von kaum jemandem erblickte Felsen liegen und stehen auf den großen Freiflächen, auf denen noch vor kurzem zahlreiche Fichten ihr Dasein fristeten. Als wir im Februar hier waren, lag trotz des eher milden Winters sogar noch etwas Schnee und es wurde in den folgenden Wochen auch noch einmal mehr.
Der Harz - erst geschoben, dann gezogen...
Als wir zu wandern begannen, ohne Auto noch sehr eingeschränkt, war der Harz sofort unsere zweite Heimat. Beide kannten wir ihn von elterlichen Ausflügen, kleinen Wanderungen und Ausflügen mit Freunden. Mit der Bahn war es hauptsächlich der Westharz beziehungsweise die Randgebiete des Gebirges. Kurzum erreichten wir bei weitem nicht alles. Im Laufe unserer „Karriere“ legten wir immer mehr Wert auf schöne Wege, schöne (Laub-)Wälder und interessierten uns mehr für Fauna, Flora und Geschichte. Von vielen breiten Forststraßen durch in Reih und Glied gepflanzte Fichtenforste hatten wir mehr und mehr die Nase voll und in der Zeit, in der wir auf einmal automobil wurden, kehrten wir dem Harz, natürlich niemals ganz, den Rücken. Wir erweiterten unseren Horizont, wenngleich wir später feststellen mussten, dass wir ihn auch einengten. Wenn wir irgendwo in Niedersachsen, Hessen, Sachsen-Anhalt, Westfalen oder Thüringen unterwegs waren und durch einen elenden Fichtenforst stapften, sagten wir spaßeshalber: „Ist ja fast wie im Harz hier!“ Immer wieder ging es in den Harz, aber immer mehr nur an den Harz. Wir entdeckten zum Beispiel den Karstwanderweg für uns, die wunderbare Landschaft bei Blankenburg, allgemein das nördliche und südliche Harzvorland und wanderten immer weniger im schönsten Gebirge unserer Heimat.
Die Jahre zogen ins Land und es sollte bis Ende 2014 dauern, bis wir aus unerfindlichem Grund eine Rundwanderung von Oderbrück zum Torfhaus und zurück absolvierten. Einer der Gründe wird wohl gewesen sein, dass immer mehr Nachrichten auftauchten, in denen die sterbenden Fichten im Oberharz erwähnt wurden, sodass wir es nicht mehr ignorieren konnten und an die schöne Urlaubszeit im Bayerischen Wald erinnert wurden. Es war übelstes Wetter im November, es war kalt, neblig und begann zu regnen, ich hatte anfangs schlechte Laune – und verliebte mich am Ende wieder in den Harz. Ich war dermaßen euphorisch und begeistert, dass die nächsten Touren ebenfalls im Harz stattfanden, ich mich wieder mit dem Heimatgebirge beschäftigte und wir jetzt jedes Jahr, bevorzugt in den sehr warmen Monaten, in den zentralen Harz aufbrechen. Dabei ging es meistens in den Nationalpark und/oder zu den Wasserwanderwegen, die wir auf unsere Bedürfnisse zurechtgeschnitten hatten. Mit geeignetem Online-Kartenmaterial suchen wir heute die kleinen Wege, den ursprünglich gebliebenen Harz, die kleinen Erlebnisse möglichst abseits der großen Wanderströme.
Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung und wie oft musste ich einsehen, dass auch unser Leben eine Wanderung ist, ein ständiger Wandel, manchmal Glück, manchmal Schicksal, manchmal Zufall, wer weiß das alles schon. Es geht mal bergauf, mal bergab, mal gerade, mal in Schlangenlinien, nach rechts, nach links, mal muss man sich durchkämpfen, mal geht es gar nicht weiter und man muss umkehren. Durch Fehler lernt man und die Heimat kann man meiner Meinung nach nur auf eine Art und Weise wirklich kennenlernen und hoffentlich lieben lernen, nämlich auf den eigenen Füßen, mit geschlossenem Mund, offenen Augen und Ohren und einem schlagenden Herzen für alles um sich herum…

Der Pinguin
Auch die nächsten Meter durch gefallene Fichten sind stark geprägt vom Wald im Wandel. Das mag auf den ein oder anderen Wanderer reizlos wirken, wir sind davon fast ausnahmslos begeistert. Schon vor knapp über 20 Jahren, als wir im Bayerischen Wald durch den vom Borkenkäfer heimgesuchten Wald wanderten, waren wir hin und weg. Das durften wir den alteingesessenen Waldlern, bei denen wir übernachteten, aber nicht sagen, weil sie da etwas anderer Ansicht waren. Auch hier im Harz lassen sich anscheinend viele diese vielleicht so schnell nicht wiederkommende Chance entgehen, einen solchen Wandel live mitzuerleben. Sollte der Klimawandel allerdings alle heimischen Bäume erwischen, sieht das vielleicht schon wieder ganz anders aus. Wir biegen zum Westerberg ab und hier scheint erst einmal die Welt wieder in Ordnung zu sein. Toller Weg, toller Wald und dann die schönen Aussichten von den ebenso schönen Klippen am Westerberg. Weitere Felsblöcke liegen überall rum, wir gehen dran vorbei und auch schon mal hindurch. Nicht alle Felsen haben leicht in Erfahrung zu bringende Namen, wie auch die große Felsformation am Pinguin. Das ist der Harz, wie er leibt und lebt, das ist Vielfalt, das ist belebte und unbelebte Natur in einem sich hoffentlich ohne Einfluss des Menschen wiederherstellende Harmonie, ein Gleichgewicht der Kräfte. Am Froschfelsen, dem letzten der „großen“ Felsen des Tages, gelangen wir in den Wandelwald des Meinebergs.
Man kann es lieben oder hassen! Birken und Lärchen dominieren das Waldbild und welche Jahreszeit ist besser geeignet als der Herbst, wenn diese beiden fantastischen Baumarten die Landschaft in strahlende Geld- und Brauntöne tauchen. Junge Fichten und Kiefern, nicht in Reih und Glied, sondern dort, wohin es sie verschlagen hat, wachsen dazwischen und sorgen für immergrüne Tupfer. Immer wieder ergeben sich Aussichten in alle möglichen Richtungen. Am zweiten Rastplatz am Meineberg dann eine wirklich hervorragende Aussicht auf Ilsenburg durch die Überreste der Fichten und die nachwachsenden Birken. Am Grüneruheplatz stoßen wir auf den Borkenkäferpfad von Ilsenburg. Hier kann man sich den weiteren Weg selbst aussuchen. Wir wählten den auf der Karte eingezeichneten Weg, der als Borkenkäferpfad ausgezeichnet ist, in seinem weiteren Verlauf aber durchaus seine Tücken hat. Der Weg wurde vor einigen Jahren verlegt, vielleicht wurde vergessen, den alten Weg zu entwidmen. Begehbar ist der von uns gewählte Weg trotzdem und führt auf einem netten Weg durch einen Wald im Wandel. Den haben wir zu diesem Zeitpunkt aber schon auf nahezu gesamter Strecke aus der Ferne und der Nähe erleben dürfen. Langsam geht es bergab, wir nähern uns dem Ortsrand von Ilsenburg, verlassen den Wald auf die Waldhof- und dann die Ilsestraße, die uns am Zanthierhaus vorbei, in dem Hans Dietrich von Zanthier eine der ältesten Forstschulen der Welt gründete, zurück zum Ausgangspunkt am Blochhauer bringt.
Am Ende eines Tages...
Ich finde es immer ein wenig problematisch, wenn ich Beiträge zu Wanderungen erstelle, die schon Wochen oder Monate her sind. Da fehlt die Nähe, da fehlen schon viele Bilder im Kopf, da fehlt die emotionale Bindung, das Hochgefühl und mehr. Am einfachsten, am ambitioniertesten schreibt es sich am Tag direkt nach der Wanderung, vorzugsweise mit mindestens guter Laune und wenigen zu erledigenden Aufgaben. Dieser Beitrag ist wieder sehr kurz und durch den Umstand, dass ich bis heute mehrere Male dran rumgefummelt habe, ohne große Recherche entstanden. Was ich eigentlich schreiben wollte: Ilsenburg war und ist immer noch einer der besten Plätze am und im Harz, von dem aus man wandern gehen kann. Der Ort und die umgebende Natur bieten ausreichend Erlebnisse, um zum Beispiel denen im restlichen Nationalpark Harz in nichts nachzustehen. Der Wald, der sich hoffentlich nur wandelt, ist in einem von uns lange erwarteten Umbruch und jetzt ist die Zeit, in der man einen solchen erleben kann. Man kann sich auf das Negative konzentrieren oder auf das Positive, wobei mir letzteres manchmal auch schwerfällt. Was uns auch an diesem Tag, diesen beiden Tagen sehr aufgefallen ist, dass es im sich wandelnden Teil des Harzes auf einmal sagenhaft viele Einblicke und Aussichten gibt. Am besten bleibt man also vielleicht geschmeidig und genießt, solange man noch genießen kann. Letztendlich herrscht auch im Harz nicht der Mensch, sondern wie immer und überall die schöpferischen und uns unendlich weit überlegenen Kräfte der Natur.
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