Die Lengdener Magerrasen

Die Lengdener Magerrasen

Himmelfahrtskommando ohne Ballerwagen! Da hat die – ich nenne es mal diplomatisch Corona-Situation – ja auch mal was Gutes an sich! Denn vor ungefähr zehn Jahren, nach einem besonders unangenehmen “Vatertag”, entschied ich mich dafür, diesen einen Tag im Jahr “unseren” Wald den “Vätern” zu überlassen und zu Hause zu bleiben. Was für eine Wohltat, endlich mal wieder auch an diesem Tag wandern gehen zu können. Ruhig war es trotzdem nicht, denn das schöne Wetter sorgte für einen Massenandrang in diesem Teil des Göttinger Waldes. Aber das war noch gut erträglich. Trotzdem als Tipp gleich am Anfang: Für eine ruhige Tour hier sollte man sich am besten einen Wochentag aussuchen. Jetzt stelle ich nach dem Andrang der letzten Wochen den Beitrag ja viel zu spät ein, darum geht es auch gleich los, denn genau jetzt (Mitte Juni) oder vielleicht noch etwas später könnte genau die richtige Zeit für die “Türkies” und die Orchideenwiesen am Kerstlingeröder Feld sein. Los ging es für uns am Friedhof Klein Lengden. Manch einer mag es kurios finden, an einem Friedhof eine Wanderung zu starten, wir haben uns sogar ein wenig darauf spezialisiert. An einem solchen Ort gibt es fast immer recht großzügige Parkplätze, sie liegen oft am Rand oder außerhalb von Ortschaften und – das ist nicht blöd gemeint, hier hat man seine Ruhe. Ich denke dann oft an die Menschen, die dort ihre letzte Ruhe gefunden haben und dass sie vielleicht auch oft hier spazieren und wandern waren und dann nehme ich sie in Gedanken mit und denke daran, dass es mir irgendwann auch so gehen wird. Ein arabisches Sprichwort sagt: Ich bin, was du sein wirst; was du bist, war ich einst.

Erst einmal muss man durch die Feldmark hinauf zum Fuß der Lengderburg mit der Wallanlage Lengder Burg, die wir heute aber nicht erobern. Der Berg gehört zum Göttinger Stadtwald, auf den ich später etwas näher eingehe. Langweilig ist das wegen der Aussicht auf den markanten Berg vorne und andere landschaftliche Elemente nicht. Die Weißdorne standen in vollster Blüte, der Holunder, der für uns den Sommer einleitet und bestimmt, zeigte in den Startlöchern befindliche Knospen. Am Waldrand führt gleich der erste nette Waldweg zu den Lengder Magerrasen zwischen den beiden Ortsteilen Klein und Groß Lengden. Inwieweit die Pflanzen hier natürlich vorkommen und/oder angesalbt wurden, entzieht sich wie fast immer unserer Kenntnis. Aber der Reichtum ist gewaltig und in den letzten Jahren sind wir hier zahlreichen seltenen Pflanzen begegnet, die wir teilweise in Niedersachsen nirgendwo anders zu Gesicht bekommen haben. Um nur einige zu nennen: Diptam, Fliegen- und Bienen-Ragwurz, Kleines Mädesüß, Bocks-Riemenzunge, Sommerwurz, Mücken-Händelwurz, Wiesen-Salbei, Acker-Wachtelweizen, Große Braunelle, Wiesen-Bocksbart und Wald-Akelei. Einige der Pflanzen kommen erstaunlicherweise auch in der eher seltenen weißen Variante vor. Das ist natürlich gleich ein echter Knaller zum Anfang. Aber auch abseits der aus botanischer Sicht besten Zeit für einen Besuch ist das fantastisch und man kann sich mehr auf den feinen Weg durch die Wiesen und die schöne Aussicht in das “Lengder Tal” konzentrieren. Wir haben es vor Jahren einmal probiert, die Runde auf der anderen Seite von Groß Lengden zu wandern, die von hier aus sehr reizvoll aussieht, aber leider gibt es dort wenige bis gar keine wirklich wanderbaren Wege, die diese Landschaft erschließen. Darum haben wir die Runde jetzt mit dem Göttinger Wald, speziell der Mackenröder Spitze und dem Kerstlingeröder Feld verbunden.

Blick über Mackenrode zum Harz

Blick über Mackenrode zum Harz

Nach dem Genuss der Lengder Magerrasen geht es zum Ortsrand von Groß Lengden, wo sich ebenfalls eine beziehungsweise mehrere Parkmöglichkeiten anbieten. Wir verschwinden gleich wieder im Wald und wandern auf schmalem Pfad zum Sportplatz des Ortes. Wenn hier nicht gerade gebolzt wird, bietet sich eine der Bänke mit Aussicht zu den Gleichen, die im ersten Teil der Wanderung sowieso andauernd den Blick wie magisch auf sich ziehen, wunderbar als Rastmöglichkeit an. Hinterm Sportplatz geht es noch einmal kurz an den Ortsrand, dann durch den kleinen Einschnitt des Jendel wieder hinein in den Wald. Auch hier gibt es nichts zu meckern. An alten Schneitel-Hainbuchen vorbei geht es in den Wald und dann nach ein paar hundert Metern wieder hinaus in die offene Landschaft. Jetzt ist es der Hengstberg, der mit seiner markanten Erscheinung das Kommando übernimmt und die ersten Harzberge zeichnen sich im Hintergrund langsam ab. Auch hier, wie eigentlich auf dem gesamten Tagesweg, kann man die Augen offen halten und am Wegesrand allerlei entdecken, wie zum Beispiel Morcheln, Türkenbundlilien oder Orchideen. Ein kleiner Abstecher führt zum Hantebeuken-Born, an dem eine Pause eingelegt werden kann. Dann geht es auf freundlichem Weg und immer fantastisch aussichtsreich durch Felder, Wiesen und Weiden weiter hinauf zum Fuß des Staneberges. An dessen Waldrand entlang führt uns ein schmaler Weg, auch schon mal als grüner Tunnel, in Richtung Mackenrode. Den Ort erblicken wir nach dem Verlassen des Waldes zusammen mit dem sich dahinter erhebenden Harz als unteren Bilderrahmen. Ein schönes Landschaftsbild. Jetzt geht es erst einmal etwas bergauf zum Waldrand und dann dauerhaft in den Göttinger Wald. Als erstes erwartet uns dort an den Fuchslöchern gleich eines der nicht wenigen Naturwaldreservate der Göttinger Gegend.

 

Der südliche Göttinger Wald

Der südliche Teil des Göttinger Waldes, zwischen Roringen im Norden, Lengden im Süden, Mackenrode im Osten und Göttingen im Westen, ist schon ein naturnahes Kleinod. In weiten Teilen, auf über 1600 Hektar Fläche, wird von engagierten Forstamtsmitarbeitern seit über 100 Jahren zunehmend naturnah gewirtschaftet, auch damit der Wald den Göttingern als ein Naherholungsgebiet erster Güteklasse dienen kann. Neben etlichen Kleinbiotopen und Naturwaldzellen ist auf einer Fläche von ungefähr 1193 Hektar der nördliche Teil des Gebietes seit 2007 als Göttinger Stadtwald und Kerstlingeröder Feld unter Naturschutz gestellt. Dieser Teil stellt den größten zusammenhängenden Kalk-Buchenwald-Komplex der Region dar. 200 Hektar umfasst dabei das zentrale Kerstlingeröder Feld mit seinen Freiflächen. Hier befand sich einst eine Siedlung, nach deren Aufgabe ein Gutshof, sodass hier mehrere Jahrhunderte lang eine extensive Landwirtschaft betrieben wurde. Auch die Nutzung des Feldes als Truppenübungsplatz bis 1992 kann im Nachhinein als Segen angesehen werden, da der Zustand des Geländes dadurch weitestgehend konserviert wurde. Der westliche Teil des Waldes unterliegt der stärksten Nutzung durch die Göttinger. Hier findet man unzählige schmale Wege und Pfade, die zum Beispiel den Bismarckturm, das Sengersfeld, den Hainholzgraben, die Tonkuhlenwiesen am Hainberg oder das Wildgehege erschließen. Zwischen dem Kerstlingeröder Feld und der Mackenröder Spitze liegt das große Naturschutzgebiet mit mehreren Naturwäldern, unter anderem am Wedehagen und an den Fuchslöchern. Hier finden sich wenige schmale Wege, aber das herrliche Naturerlebnis kann dadurch nicht getrübt werden. Der südliche Teil ist wohl den Niedersächsischen Landesforsten unterstellt, deren modernes Wirtschaften uns schon sehr oft an vielen Stellen sauer aufgestoßen ist. Trotzdem findet man auch hier noch schöne Wege und mehr oder weniger naturnahe Wälder. Da die Fülle an Informationen zu Fauna und Flora und weiteren Aspekten des Göttinger Waldes schier unglaublich ist, verlinke ich hier lieber nur auf einige externe Sites, bei denen ich mich auch damit versorge.

Am Kerstlingeröder Feld

Am Kerstlingeröder Feld

Das Naturwaldreservat Fuchslöcher, das 1974 ausgewiesen wurde und eine Fläche von etwa 27 Hektar hat, erhielt seinen Namen wohl, wenn es keine entsprechende Sage geben sollte, von den besonderen geologischen Gegebenheiten vor Ort. Über dem Röt als unterer Erdschicht liegt hier Kalkgestein, was im Laufe der Zeit immer wieder zu Bergrutschen und Erdeinbrüchen geführt und damit das teils steil abfallende, teils hügelige Relief geschaffen hat. Das ist schon mal was richtig Feines, hier zu wandern und der Weg ist immer wieder mal ein anderer, weil umfallende Bäume und herabstürzendes Gestein für Wegverlegungen sorgen. Hier wächst auch der Bärlauch erstmals am heutigen Tag in großen Mengen. So geht es schon einmal richtig nice hinauf zur Schutzhütte Mackenröder Spitze. Die Mackenröder Spitze selbst liegt ein paar hundert Meter weiter im Wald und der Aussichtsturm befindet sich noch eine Ecke weiter weg. Wir waren vor Jahren einmal am Aussichtsturm und das hat uns auch gereicht. Damals sind wir aus Unwissenheit auf der Seckbornstraße hingegangen und auf der Borheckstraße dann zum Kerstlingeröder Feld. Danke, nie wieder. Stattdessen machen wir unsere Wende jetzt immer hier, um auf dem Mackenröder Trail zurückzugehen. Der Trail ist ebenso freundlich und schmal wie der Hinweg zur Mackenröder Spitze und führt durch fantastischen Buchenwald, teils am Rand des Naturwaldreservats Wedehagen und am Rand der Felskante entlang, die wir vorhin von unten sehen konnten. Jetzt kommen wir zum Übergang zum Kerstlingeröder Feld. Der Weg ist breit und relativ gerade, ist aber freundlicher als andere Wege und führt durch Massenbestände des Bärlauch am Forschungszentrum Waldökosysteme vorbei. Hier erforschen mehrere Fakultäten der Universität Göttingen unter anderem den Stoffhaushalt der Bodenvegetation und des gesamten Ökosystems.

Danach sucht sich jeder am besten selbst seine bevorzugten Wege zum und dann auch auf dem Kerstlingeröder Feld. Hier kann man nämlich munter hin und her laufen und diese außergewöhnliche Freifläche im Wald erkunden. Der von uns gewählte Weg verschafft einen guten “Rundumschlag” und nimmt “das Wichtigste” mit. Zuerst gehen wir zum Hohen Feld am Hollandsberg. Hier kann man auch schon am Wegesrand zur rechten Zeit einige Orchideen ausmachen. Auf der ersten Wiese, die wir erreichen, wachsen zum Beispiel Grünliche Waldhyazinthen, die sich manchmal im schon sehr hohen Gras verstecken. Wir waren dieses Mal definitiv zu früh da und konnten deshalb vorbehaltlos die schöne Landschaft genießen. Am Ende der Wiese geht es leider noch asphaltiert hinauf zum Sauberg und zum Kerstlingeröder Feld. Das ist ungefähr ab Mitte Juni eine wahre Pracht, wie man sie in unseren Breiten selten so aus der Nähe erleben darf. Je mehr man sich der Anhöhe nähert, umso zahlreicher werden die Bestände des Gefleckten Knabenkrauts bzw. Fuchs` Knabenkraut. Da streiten sich die Gelehrten momentan noch, wir als Laien können die weiß-rosa Pracht einfach so genießen. Das ist immer wieder ein Highlight dieser Tour, die mit solchen nun wirklich überhaupt nicht geizt. Hunderte, tausende Exemplare stehen hier teils dicht an dicht. Wenn man alles zusammennimmt, was wir bis jetzt hier entdecken konnten, bekommt man mit etwas Glück am Rand einer Wanderung, ohne lange danach suchen zu müssen, bis zu zehn Orchideenarten an einem Tag geboten. Alle gleichzeitig in Blüte zu erleben, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Was man bei all dem Schwelgen in Orchideen-Träumen nicht vergessen sollte, ist, dass der Göttinger Stadtwald auch im Frühling ein traumhaftes Erlebnis ist, wenn zahlreiche Frühblüher, wie Leberblümchen, Bärlauch und Buschwindröschen hier den Waldboden überziehen.

Ruinen von Kerstlingerode

Ruinen von Kerstlingerode

Man muss botanisch immer Abstriche machen, aber selbst ganz ohne solche Erlebnisse wäre die Wanderung mit den Landschaften, den Aussichten und den Wegen und Pfaden, eine äußerst wanderbare. Auf dem Kerstlingeröder Feld gibt es in Sachen Natur und Kultur natürlich noch jede Menge mehr zu erleben. Die Ruinen des Gutshofs und die parkähnliche Landschaft sind fast schon Pflicht. Ansonsten immer der Nase nach und rüber über die “Wiese”. Informationen zum Kerstlingeröder Feld findet man im Netz jede Menge. Wir treten am Ende der Freiflächen wieder in den Wald. Dieses Mal gingen wir einen anderen Weg, der an der wunderbar renaturierten Panzerwaschanlage ist aber ebenfalls sehr zu empfehlen. Auf einem schmalen Weg und Pfad geht es erst einmal zu einem breiteren, der uns knapp am Weneborn vorbeiführt. Wer möchte, kann dort noch eine Rast einlegen. Dann geht es auf wechselnd naturnahen Wegen, aber immer in jeder Hinsicht freundlich, vorbei an einem ehemaligen Steinbruch. Der direkte Weg am Steinbruch ist eher nicht zu empfehlen, weil wirklich sausteil. Wir erreichen schließlich das Quellgebiet des Lengder Bachs, an dem ebenfalls ein Rastplatz zu einer letzten Pause einlädt. Ein Stück in Richtung Klein Lengden, dann auf freundlichen Waldrandwegen am Fuß der Lengderburg und schon geht es durch die Felder hinab zu unserem Ausgangspunkt.

Am Ende eines Tages...

Zum Ende hin wieder etwas fahrig abgehandelt, dieser Beitrag. Aber man könnte, wenn man alles berücksichtigen würde, tagelang schreiben, schreiben und schreiben. Doch wir wollen ja wandern, wandern und wandern. Diese Tour im Göttinger Wald ist wirklich ein richtiger Knaller und ohne Zweifel eine der schönsten und erlebnisreichsten Touren unserer selbstgewählten Wanderheimat, die sich über Teile von fünf Bundesländern erstreckt. Überhaupt ist die Umgebung von Göttingen mit den Höhenzügen des Leineberglandes eine sehr wanderbare Gegend und ich hoffe, dass etliche Touren davon noch Zeugnis ablegen werden. Da die alte Universitätsstadt für uns über die Autobahn 7 sehr gut erreichbar ist, werden wir hoffentlich bald noch ein paar ältere Touren wiederholen können und uns vielleicht noch ein paar neue suchen. Viel Spaß für alle im Göttinger Wald.

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