
Ein wanderbarer Pfad
Es kommt mir schon ein wenig komisch vor, dass wir noch nie hier gewandert sein sollen, aber die Fotos, die wir seit 2005 digital aufgenommen haben, geben nichts her. Zum Durchforsten der analogen Fotos seit 1997 bin ich mittlerweile zu faul geworden. Na, sei’s drum. Ich hoffe, das war zumindest nicht das letzte Mal, dass wir hier wandern waren. An dieser Stelle mal kurz, vielleicht gibt es irgendwann einen Beitrag dazu, zu einer der vielen faszinierenden Aspekte des vielleicht ganzheitlichsten der deutschen Mittelgebirge: Die Namen. Die mag es auch anderswo in ähnlicher Fülle geben, hier fällt es mir aber immer wieder auf, wie fantasievoll und klangvoll die Namen verschiedener Örtlichkeiten im Harz sind. Als Beispiele seien hier nur einige genannt, über die sich jeder Interessierte selbst informieren darf. Ortsnamen sind zum Beispiel Elend, Sorge, Torfhaus, Tanne, Hahnenklee-Bockswiese, Riefensbeek-Kamschlacken, Hanskühnenburg oder Drei Annen Hohne. Alte Gruben tragen Namen wie Gnade Gottes, Schatzkammer, Brauner Bär, Frischaufsglück, Reicher Trost oder Neu Versuchtes Glück, Berge heißen zum Beispiel Brocken, Rauher Jakob, Großer Knollen, Achtermannshöhe, Rammelsberg oder Schalke. Lokalitäten im Wald sind zum Beispiel als Böser Hund, Dreieckiger Pfahl oder Eiserner Tisch bekannt und besitzen wohl ebenfalls oft eine interessante Hintergrundgeschichte.
Das knapp über 400 Einwohner zählende Dorf Elend – das mit den Namen geht weiter – gehört zur Stadt „Oberharz am Brocken“, die allerdings erst 2010 durch Zusammenschluss mehrerer kleiner Städte und Gemeinden entstand. Der Name des Ortes kommt von mittelhochdeutsch Alilanti und Ellende und verweist auf einen einsamen und abgeschiedenen Ort. Dazu später mehr an der Elendsburg. Ein bisschen abgeschieden ist es hier heute noch, aber auch nur ein bisschen und wohl auch nur manchmal. Wahrscheinlich als Forstplatz entstanden, erlebte Elend Ende des 18. Jahrhunderts Aufschwung durch ein Hüttenwerk, das bereits gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wieder stillgelegt wurde. Nach kurzem Niedergang erlebte Elend einen erneuten Aufschwung durch den Bau der Harzquerbahn und den damit zunehmenden Tourismus. Elend konnte dahingehend wohl auch als Nachbardorf von Schierke punkten, das einstmals als „St. Moritz des Nordens“ galt. Wahrzeichen von Elend ist die 1897 errichtete Kirche, die als kleinste Holzkirche Deutschlands gilt. Los geht es also auf dem „elend“ kostenintensiven Parkplatz in Elend. An der Kirche vorbei, die wir auf dem Rückweg aus der Nähe erleben, geht es nahezu direkt raus aus dem Ort. Wir überqueren die Gleise der Harzquerbahn, auf denen man mit etwas Glück oder auch durch vorheriges Studium des Fahrplans einem der seltensten und schönsten Geschöpfe des Harzes begegnen kann, dem Schnaufer. Dahinter finden wir eine Infotafel des etwa 25 Kilometer langen Teufelsstieges, der seit 2005 von Bad Harzburg zum Brocken und seit 2014 weiter nach Elend führt. Auch wenn ich einige Abschnitte, die barrierefrei gewählt wurden, für uns verlegen würde, ist das ein Knallerweg, der von der mondän anmutenden „Boomtown“ Bad Harzburg in die Bergwildnis des Oberharzes führt und einige der schönsten Flecken des Gebirges erreicht, wie das Molkenhaus, einen kurzen Abschnitt des Eckertals, die Eckertalsperre, den Brocken, das Eckerloch mit dem Eckerlochstieg, Schierke, das Elendstal und schließlich Elend.

Die Kalte Bode im Elendstal
Für uns ist der Teufelsstieg mittlerweile zu lang und beschwerlich für eine gechillte Genusswanderung, darum geht es heute auch nach rechts ab auf die Alte Rodelbahn, die bis nach Schierke führt. Ein netter Weg, den wir dann aber gleich wieder verlassen, um über die Ruine Elendsburg ins Elendstal zu gelangen. Der Weg ist von hier aus nicht ausgeschildert und auf der gesamten Länge recht ungepflegt bzw. kaum noch im Gelände auszumachen. Das ist sehr schade, denn vom Naturerlebnis zählt er zu den schönsten Abschnitten des Tages. Hoffen wir, dass jemand die Motivation findet, den Weg wieder etwas begehbarer zu machen. Wer sich diesen Weg nicht zumuten will, kann weiter über die Alte Rodelbahn und die Helenenruh zum Rand von Schierke gehen und dann an der Brücke über die Kalte Bode ins Elendstal einsteigen. Das wäre nicht einmal viel länger. Allerdings verpasst man dann das wunderbare Felsental, das wir zur Ruine Elendsburg durchqueren. Hier erlebt man das Naturschutzgebiet Elendstal, das wir am Anfang der Wanderung auf nahezu allen möglichen Wegen erkunden, hautnah. Hier finden wir den im weiten Umfeld einzigen verbliebenen Laubmischwald in solchen Höhen, der einen hohen Anteil an Rotbuche und Ahorn aufweist. Auf dem schmalen Pfad gehen wir um den Berg herum, dann ein wenig hinab in ein abgeschiedenes, parallel zum Elendstal verlaufendes Tal. Herrliche Felsen gibt es hier zu erleben und erste Schilder mit grünem Punkt weisen darauf hin, dass es sich um einen ausgewiesenen Wanderweg handelt. Kurz, aber oho geht es zur Ruine Elendsburg, die wir aufgrund der glitschigen Wege dieses Mal nicht erklommen.
Hinter dem markanten Felsen, den man ohne Hinweis wohl nie für den Standort einer ehemaligen Burganlage gehalten hätte, geht es hinab ins Elendstal und auf einem noch breiten Laufweg zu einer Brücke über den Harzfluss. Um dem Tal ein wenig mehr Zeit widmen zu können, dem Fluss ein wenig mehr Aufmerksamkeit, wandern wir jetzt auf der anderen Seite des Ufers fast wieder zurück bis nach Elend. Ein für Harzer Verhältnisse erst einmal unspektakulär daherkommender Abschnitt eines Gewässers, der aber auf jeden Fall Spaß macht und viele kleine Erlebnisse am Rande bietet. Ein rauschender, schäumender, sprudelnder, gurgelnder Bach zur Linken, ein recht knackiger Berghang zur Rechten. Eine kleine Brücke war gesperrt, eine im Herbst nicht einfache Umgehung musste gefunden werden. Hier im Naturschutzgebiet soll es den in unserer Umgebung nur im Harz vorkommenden, sehr markanten Alpen-Milchlattich geben, für den, wie für fast alle anderen Blühpflanzen, im Endherbst natürlicherweise erstmal Schicht im Schacht ist. Auf dem wanderbaren Pfad und Weg geht es am Flüsschen entlang bis kurz vor die Tore Elends, wo der Talwächter auf uns wartet. Das ist eine der alten Fichten, von denen es etliche im Elendstal geben soll. Der sich majestätisch in die Höhe reckende Baum ist nicht zu übersehen. Auch wenn es manchmal so scheint, als ob ich nicht viel für den „Brotbaum des Bergbaus“ übrig hätte, der Faszination eines alten Einzelbaums oder natürlich vorkommender, chaotisch angeordneter Fichten kann selbst ich mich nicht entziehen und dem Harz würde ein Großteil seiner Urtümlichkeit mit dem Verschwinden dieser Bäume verloren gehen. Wir wenden uns scharf nach rechts und steigen zu den Schnarcherklippen auf.
Naturschutzgebiet Elendstal
Das ungefähr 74 Hektar große Naturschutzgebiet wurde erstmals 1961 ausgewiesen. Geschützt werden sollen unter anderem die im Tal isolierten und höchstgelegenen Buchenbestände des Harzes, artenreiche Bergahorn-Schluchtwälder und seltene Blühpflanzen. Zahlreiche Klippen, markante Felsen und Blockfelder prägen das Tal der Kalten Bode an vielen Stellen. Alte Buchen und auch etliche alte Fichten gehören zum Landschaftsbild. Fauna und Flora haben einige Seltenheiten zu bieten, wie den Alpen-Milchlattich, die Weiße Pestwurz, das Sumpf-Vergissmeinnicht, den Grauspecht, die Wasseramsel oder die Gebirgsstelze. Auch die Wildkatze und der Luchs sind hier schon gesichtet worden.

Große Schnarcherklippe
Hier bietet sich abschnittsweise das eben relativierte Bild. Vielerorts steht die viel besungene und viel gepriesene Fichte in Mono-Beständen am Wegesrand und an vielen Stellen musste sie ihren vom Menschen zugewiesenen Standort bereits aufgeben. Nach wenigen hundert Metern erreichen wir eine erste Aussicht am Barenberg, die aber weitestgehend zugewachsen ist und nur einen kleinen Blick Richtung Hohnekamm erlaubt. Kurz darauf dann folgt die zweite Aussicht, von der aus man in Richtung Elend sehen kann und weiter in den flacher werdenden Ostharz. Auf nettem Weg geht es schließlich zum „Gipfel“ des Barenberges, von dem aus man einen ebenfalls etwas eingeschränkten Blick zum Brocken und den Hohneklippen genießen kann. Überall rechts und links der heutigen Strecke sind Felsen verschiedener Größe und Form verteilt. So auch hier. Der Harz ist überhaupt ein sehr felsenreiches Mittelgebirge. Sehr gut kann man das auch an den großen Freiflächen erkennen, an denen die toten Fichten von der Natur oder vom Menschen abgeräumt wurden. Einer bzw. zwei der am erstaunlichsten wirkenden Felsformationen erreichen wir wenige Meter nach dem Barenberggipfel. Die beiden Schnarcherklippen wirken fast kurios, so mitten im „flachen“ Wald stehend. Das Smartphone meiner Freundin hat zwar eine gar nicht mal so üble Weitwinkelkamera, die selbst im Breitformat aus nächster Nähe beide Felsen vollständig aufs Bild bannen konnte, aber leider in dem Fall in einer derart schlechten Qualität, dass ich nur ein notdürftig zusammengeschnipseltes Bild in die Galerie setzen konnte. Mit normalen Mitteln kommt man nicht weit genug weg, um die beiden Klippen vollständig aufs Bild zu bannen. Die Schnarcherklippen sind zwei fantastische Felsengebilde, von denen sich das größere über mehrere für nicht Schwindelfreie eher ungeeignete Stahltreppen besteigen lässt. Von dort oben hat man auf jeden Fall eine super Sicht auf die nähere und weitere Umgebung, unter anderem den Hochharz vom Wurmberg über den Brocken bis zum Hohnekamm. Berühmtheit erlangten die beiden Felstürme durch Goethes dritte Harzreise und ihre Erwähnung im Faust I und Faust II.
Seh die Bäume hinter Bäumen,
wie sie schnell vorüberrücken,
und die Klippen, die sich bücken,
und die langen Felsennasen,
wie sie schnarchen, wie sie blasen!
Goethe (Faust I)
Der Blocksberg bleibt ein gar bequem Lokal,
Wo man auch sei, man findet sich zumal.
Frau Ilse wacht für uns auf ihrem Stein,
Auf seiner Höh wird Heinrich munter sein,
Die Schnarcher schnauzen zwar das Elend an,
Doch alles ist für tausend Jahr getan.
Goethe (Faust II)

Kleinste Holzkirche Deutschlands in Elend
Hinter den Schnarchern geht es weiter durch den sich stellenweise rasant wandelnden Wald. An der Mäuseklippe sah es bei unserem Besuch verheerend aus, wobei man jetzt wenigstens die Felsen in ihrer ganzen Pracht bewundern darf. Überhaupt bekommt man in diesen Jahren, die etliche wohl gerne als Katastrophenjahre sehen, so viele Ein- und Aussichten wie selten. Was vor Jahren an vielen Stellen im Harz noch nahezu unvorstellbar war, nämlich Aussichten, bekommt man jetzt überall geboten. Wenn in einigen oder etlichen Jahren wieder eine Waldwildnis entstanden sein sollte, wird sich manch einer, unter anderem wir, eventuell diese interessanten Zeiten zurückwünschen. Aber wie der Rheinländer es so weise formuliert: Et is wie et is un et kütt wie et kütt. Besser vielleicht, man erfreut sich an dem, was man hat als an dem, was man haben könnte, wollte oder müsste. Links schwenk marsch geht es zu einem breiteren Hauptweg, den wir kurz überqueren, um auf den wanderbaren Braunlager Weg zu gelangen. Der schmale Weg führt in nächster Nähe durch einen Fichtenwald, der schon wesentlich freundlicher daherkommt. Am Ende des Weges erreichen wir schließlich die Scherstorklippen. Der dahinter verzeichnete, schmale Weg war durch die massiv eingesetzten Waldpanzer bis zur Unkenntlichkeit zerpflügt worden, so dass wir gleich hier auf den an dieser Stelle etwas breiten Ulmer Weg einstiegen. An einer kleineren Klippe vorbei, gelangen wir dann zum Einstieg in den schmaleren Abschnitt des Ulmer Weges, der uns nach Elend geleitet. Ein insgesamt recht schöner Weg, der zum Ende hin noch einmal mit allen Reizen des Harzwaldes aufwartet. Anfangs ging es für uns durch Rodungsflächen, durch den sich wandelnden Wald, auf schmalem Pfad über Stock und Stein durch dichten Fichtenwald und dann noch durch einen recht monoton daherkommenden Forst. Der Weg bleibt aber nett und am Ende erwartet uns auch wieder ein Laubwald, durch den wir Elend erreichen. Direkt an der Holzkirche Elend vorbei, geht es hoffentlich voller Zufriedenheit auf zu unserem Ausgangspunkt am „Premium-Parkplatz“ in Elend.
Am Ende eines Tages...
Wir suchen ja möglichst die kleinen und schmalen Wege, was nicht immer gelingt, wenn man eine faszinierende Landschaft erkunden will. Hier im Naturschutzgebiet Elendstal hatten wir einige richtig schöne Passagen. Monotone Wege, wie es sie vielerorts im Harz gibt und immer geben wird, gab es hier eigentlich gar nicht. Elend ist nach unserem Empfinden auch noch nicht so arg auf modernen Tourismus gedrillt wie die nahen Orte Braunlage und Schierke. Hier kann man den „alten“ Harz, die Abgeschiedenheit dieses einzigartigen Mittelgebirges, noch ein wenig nachempfinden. Wir hoffen, dass es noch eine ganze Weile so bleibt…
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